Viele Amateure stagnieren in ihrer kreativen Entwicklung, weil sie sich von abgegriffenen Ideen, alten Dogmen und Angst vor Neuem beschränken lassen. Ein Plädoyer fürs Loslassen.
Wenn du meine letzte Kolumne „Niemals aufgeben“ gelesen hast, mag das heutige Thema „Endlich aufgeben“ irritierend wirken. Beim Schreiben des letzten Textes ist mir jedoch aufgefallen, dass es für viele Fotografierende parallel zum „Niemals aufgeben“, zum Durchhalten, zum Am-Objekt-Dranbleiben und Weiter-Optimieren, auch ein „Endlich aufgeben“, eine gewinnbringende Art des Aufhörens, geben kann: Wenn es Zeit ist, sich von abgedroschenen Motiven, nicht hinterfragten Dogmen und destruktiven Ratgebern zu verabschieden.
In vielen meiner Bildbesprechungen mit Kleingruppen oder 1:1-Teilnehmenden höre ich ebenso tief eingespurte wie eindimensionale Meinungen zur Bildgestaltung: „Aber man muss doch jede Linie in eine Bildecke laufen lassen“ oder „Aber ich darf doch nie wichtige Elemente in die Bildmitte setzen“ oder „Schwarz-Weiß ist immer besser“ oder „Nur rappelscharfe Fotos sind gute Fotos“. Oder zum Thema Schere im Kopf: „Ich würde ja gerne mal was Neues fotografieren, aber meinen Fotofreunden darf ich nur bestimmte Motive zeigen, alles andere wird sofort sanktioniert.“ Ich erlebe erstaunlich viele meiner Gesprächspartner:innen eingeengt in einem Korsett aus starren Dogmen, gedanklichem Beschnitt und daraus resultierendem Festhalten am Bekannten.
Platz für Neues
Ich habe die Zeit des ersten Corona-Shutdowns genutzt, darüber nachzudenken, an welchen Stellen meine eigene Fotografie eingerostet ist und wie ich meine Bilder und meine Kreativität weiterentwickeln kann. Da ein Tag zu meiner täglich neuen Überraschung nur 24 Stunden hat und ich nicht noch mehr Projekte in meine Zeit packen kann, war klar, dass ich erst ausmisten musste: Was will/muss ich (endlich) aufgeben, um Platz für Neues zu haben? Ich fand das wie ein Geschenk und wie ein Durchatmen, für ein paar Wochen mein berufliches Fotografen-Leben gedanklich auf den Kopf zu stellen, zu sortieren, auszusortieren.
Falls du – wie sehr viele meiner Workshopteilnehmenden, mit denen ich in den letzten Monaten telefoniert habe – gerade nach dieser langen, ermüdenden Pandemie-Zeit eine diffuse Unzufriedenheit mit deinem Hobby Fotografie empfindest: Vielleicht kannst du dir wie ich auch gezielt Zeit und Muße nehmen, um zu überlegen, ob für deine Fotografie ein „Endlich aufgeben“ dran ist, um deinem Hobby frisches Leben einzuhauchen.
Frischer Wind für Fotoprojekte
Überlege, womit du aufhören willst, um fotografisch weiterzukommen. Springe bildgestalterisch über ausgediente Dogmen, und stelle dem totgesehenem Alten frische Gestaltungen gegenüber (aber ohne diese wieder gleich zum neuen Dogma zu erheben). Hinterfrage, ob deine bisherigen Feedback-Geber in Bezug auf deine Fotos wirklich konstruktiv-kritisch oder eigentlich nur toxisch sind. Entwickle alternativ mit deiner Partnerin, deinem Partner oder echten Freund:innen neue Motivideen, ein eigenes Fotoprojekt.
Ich betreue gerade gut ein Dutzend solcher Projekte und erlebe, wie viel Energie meine Gesprächspartner:innen plötzlich haben, wenn sie Überholtes beenden und Neues wagen. Alte Zöpfe abzuschneiden, das Richtige endlich aufzugeben, kann richtig viel Spaß machen!