Stadt- und Landleben – grundverschieden und dennoch verbunden. Obwohl heute die meisten Menschen in der Stadt leben, bleibt diese Beziehung mit Blick auf Nahrungsmittelproduktion, Landwirtschaft oder Energieversorgung bestehen. Während zahlreiche Jugendliche dem Landleben den Rücken kehren, gehen die Fotografen Hermann Hirsch und Jan Leßmann den umgekehrten Weg: sie sind aufs Land gezogen, wo sie ihr Leben abseits der romantischen Vorstellungen fotografisch dokumentieren und interpretieren. Wir blättern in den Bildband „Stadt. Land. Dorf“ von Hermann Hirsch, Jan Leßmann und Eva Reisinger.
Vierzehn Begriffe stehen im Inhaltsverzeichnis – Strom, Heuballen oder Gummistiefel zum Beispiel – und geben einen Vorgeschmack auf das, was Lesenden erwartet. die Zwischen Panoramaaufnahmen von strahlend gelben Rapsfeldern, die von einer trügerischen Idylle erzählen, findet sich die Realität in Form von Strommasten, Solaranlagen und akkurat zurecht gestutztem Rollrasen. Die Stadt wird zwar nicht abgebildet, ihre Spuren finden sich aber auch auf dem Land allerorten. Sie stehen weiterhin in enger Symbiose – sei es durch die Energielieferanten Sonne und Wind oder durch die riesigen Mais- und Getreidefelder, die auch die Stadtbewohner:innen ernähren. Dennoch fragt man sich unweigerlich, ob das Land am Ende nur der verlängerte funktionelle Arm der Stadt geworden ist?
Gerade die Kontraste sind es aber, die diesen Bildband ausmachen: Da liegen Heuballen unter Windkrafträdern, Pommes aus der Tiefkühltruhe treffen auf die langen Reihen des Kartoffelackers, feinsäuberlich getrimmte Hecken stehen neben zugewucherten Grundstücken. Dieser Zwiespalt trifft den Kern des Landlebens: Moderne Entwicklungen und Technologien sind auch in den Dörfern längst Standard, doch auch Traditionen, das Ursprüngliche haben hier ihren festen Platz. Gartenzwerge, Jägerzaun und Doppelkorn existieren hier neben Solarzellenfeldern, Melkrobotern und prall gefüllten Supermärkten.
Bildband „Stadt. Land. Dorf“: Das Land jenseits der Romantik
Die Fotografen Hermann Hirsch und Jan Leßmann haben es geschafft, das Ländliche ohne jede Romantisierung abzubilden. Ihre Bildsprache ist klar, erfrischend und zeichnet sich durch spannende Bildschnitte und gekonnte Inszenierungen aus. Auffällig selten tauchen Menschen auf ihren Aufnahmen auf – und wenn, dann sind es meist anonyme Statist:innen, von hinten oder seitlich fotografiert, die Gesichter nicht zu erkennen. Dadurch haftet den Bildern eine gewisse Melancholie an, sie lässt ein Sehnen entstehen, indem die Vergänglichkeit von Maisfeldern, Wäldern und Ackerlandschaften offenbar wird. Der Hauch des Vergänglichen ist es auch, der die Kapitel „Hochsitz“ und „Gummistiefel“ durchweht. Die Fotografen zeigen das Landleben ungeschönt – dazu gehört auch die Jagd und die erlegte Beute. Das Kapitel „Leberwurst“ ist in diesem Zusammenhang fast schon selbsterklärend.
„Stadt. Land. Dorf“ blickt in ungeschönten Bildern auf das Leben auf dem Land und setzt sich anhand der 14 Begriffe, die symbolisch für einen Aspekt des Landlebens stehen, subtil mit den Herausforderungen und Kontrasten, Vorstellung und Realität auseinander. Ein Porträt des Landes – und eine Liebeserklärung an seine wunderbaren, hässlichen und skurrilen Seiten. Mit Texten von Eva Reisinger, die klärt, weshalb der Birnbaum das Symbol der Nachbarschaft ist und der Einkaufskorb unsere Zukunft entscheidet.
Die Fotografen:
Hermann Hirsch ist professioneller Fotograf, Autor und bekennender Naturliebhaber aus Florstadt in Hessen. Der gelernte Tischler findet seine Motive unmittelbar vor der eigenen Haustüre. Kurze Wege zu seinen Fotolocations ermöglichen es ihm, langjährige Projekte über bestimmte Gebiete und Tierarten umzusetzen. Sein Stil fand wiederholt Anklang bei den Jurys internationaler Naturfotowettbewerbe, wie dem Wildlife Photographer of the Year und dem Europäischen Naturfotografen des Jahres. Er gewann den Wettbewerb GDT Naturfotograf des Jahres und den Fritz Pölking Preis in der Jugendkategorie. Seine Bilder werden regelmäßig in Büchern und Magazinen veröffentlicht; zudem ist er Co-Autor des Lehrbuches “Gute Fotos, harte Arbeit – Wege zum perfekten Naturfoto”.
Jan Leßmann, geboren 1993 in Bochum, ein kreativer, neugieriger, humorvoller, einfühlsamer, oft ironischer, liebenswürdiger, visuell geprägter Mensch von der Ostküste Deutschlands, geht mit all seinen Sinnen durch die Natur. Als professioneller Fotograf, Autor und begeisterter Löffelschnitzer schafft er oft abstrakte Bilder, die einzelne Elemente aus dem großen Chaos hervorheben. Theoretisches Wissen erlangte er im Studium Landschaftsökologie und Naturschutz, jetzt transportiert er sein Wissen in Bilder und Geschichten.
Die Autorin:
Eva Reisinger wuchs in der oberösterreichischen Provinz zwischen Zeltfest und Wodkabull auf. Sie studierte in Wien Journalismus & Medienmanagement an der FH Wien, arbeitete in Medienhäusern in Hamburg, Berlin und Istanbul. Ihr erstes Buch „Was geht, Österreich?“ erschien 2021 bei Kiepenheuer & Witsch. Sie veröffentlichte in der ZEIT, ZEIT ONLINE, Wiener Zeitung, in Die Presse sowie VICE und wurde als eines der besten journalistischen Talente Österreichs unter 30 ausgezeichnet.
Der Bildband:
Stadt. Land. Dorf
Betrachtungen zwischen Rollrasen und Heuballen
Knesebeck Verlag
192 Seiten, 32 Euro
ISBN 978-3-95728-507-2
www.knesebeck-verlag.de/stadt_land_dorf/t-1/1039