Sibylle Bergemann (1941–2010) gehört zu den bekanntesten deutschen Fotograf:innen. Über mehr als vier Jahrzehnte schuf die Berlinerin ein außergewöhnliches Werk aus Stadt-, Mode- und Porträtaufnahmen sowie essayistischen Reportagen. Wiederkehrende Motive sind die Stadt, Frauen und immer wieder auch Hunde. Die Berlinische Galerie widmet der renommierten Künstlerin nun eine große Retrospektive – begleitend erscheint der Katalog „Sibylle Bergemann: Stadt Land Hund. Fotografien 1966 – 2010“.
Schon mit fünfzehn Jahren möchte Sibylle Bergemann Fotografin werden. Zunächst beginnt sie 1958 jedoch eine kaufmännische Ausbildung und arbeitet in verschiedenen Betrieben als Sekretärin. Ab 1965 ist sie für die illustrierte Monatszeitschrift „Das Magazin“ in Berlin tätig. Hier lernt sie den Fotografen und ihren späteren Lebenspartner Arno Fischer (1927–2011) kennen, der damals an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst in Weißensee unterrichtete.
Sie wird Teil eines inspirierenden Freundeskreises aus Künstler:innen, Mode- und Architekturstudent:innen. Durch ihre berufliche Routine und den intensiven Austausch mit befreundeten Fotograf:innen wie Brigitte Voigt, Arno Fischer und Roger Melis stärkt sich in den 1970er Jahren ihre Position im Bereich der freien Fotografie.
Berlin ist und bleibt über Jahrzehnte hinweg ihr Thema: Sie überführt scheinbar Gegensätzliches subtil in poetische Schönheit. In der DDR setzt sie das abgerissene historische Amtsgericht in den Kontrast zur modernen Glasfassade des „Haus des Lehrers“. Im wiedervereinten Deutschland hält sie den Rückbau des Palasts der Republik, einst kulturpolitisches Symbol der DDR, vor dem neobarocken Berliner Dom fest. Die Menschen in der Stadt fotografiert sie aus einer subjektiven Beobachtung heraus, in ihren sozialen Milieus oder städtischen Lebenswelten.
Künstlerische Autonomie
Generell versucht Bergemann, mit einer eigenen Bildsprache ihre künstlerische Autonomie jenseits des parteilich verordneten Bildkanons zu behaupten, ohne dabei Veröffentlichungsverbote zu riskieren. Sie ist auf den großen Ausstellungen der DDR vertreten. In den 1970er Jahren publiziert sie Texte und Bilder in der Zeitschrift „Fotografie“, die der Zentralkommission für Fotografie (ZKF) unterstellt ist. Hier beschreibt sie 1973 die Fotografie als „[…], eine sinnlich wahrgenommene und mitgeteilte Auffassung von Menschen und ihren Beziehungen, von Dingen und ihren Zusammenhängen […].“
Sonntag“ und „Sibylle“ veröffentlicht. Bergemann ist unter anderem von der französischen Fotografie inspiriert, etwa von Eugène Atget und Édouard Boubat. So unternimmt sie in der DDR wiederholt Anstrengungen, nach Frankreich zu reisen. Ihr eigenes, dem Menschen zugewandtes Selbstverständnis findet sie auch in der von Edward Steichen kuratierten Wanderausstellung (1955, New York und Berlin) und dem Katalog „The Family of Man“ wieder. Sie sieht sich darin bestätigt, dass sich die Fotografie als Berufsfeld kultur- und gesellschaftspolitisch etablieren lässt, ohne den Anspruch auf individuelle Urheberschaft aufzugeben.
Die Wirklichkeit in Bildern
Bilder von Frauen prägen das Werk der Fotografin. Oft sind es Schauspielerinnen, Künstlerinnen, Autorinnen und Mannequins, die Bergemann aus ihrem Selbstverständnis als Frau fotografiert. Ausdruck und Pose der Dargestellten sind mal humorvoll und aufsässig, mal lässig und stolz. Sie möchte „die Wirklichkeit in die Bilder bringen“, hält sie 1994 fest. Studio-Fotografie reizt sie nicht, sie will Mode situativ in natürlichen Lebensräumen aufnehmen.
1993 sagt sie im Interview mit der ehemaligen Sibylle-Redakteurin Dorothea Melis: „Wetter und Licht sind immer ein Risiko, aber aus der Improvisation entstehen oft unerwartet schöne Bilder.“ Trotzdem sind die Modeserien thematisch und konzeptuell vorbereitet. Während der Foto-Sessions dirigiert und arrangiert Bergemann ihre Modelle. „[B]ei der Mode“, so die Fotografin 2007, „da muss man schon ganz genau wissen, was man will, und muss den Leuten das auch sagen.“
Auch im wiedervereinten Deutschland sichert Bergemann ihre fotografische Autonomie: Im Oktober 1990 gründet sie zusammen mit Harald Hauswald, Ute Mahler, Werner Mahler, Jens Rötzsch, Thomas Sandberg und Harf Zimmermann „OSTKREUZ – Agentur der Fotografen“. Sie setzen sich zum Ziel, durch gegenseitige Unterstützung im westlichen Betrieb selbstständig zu bleiben und die eigenen Bildrechte zu sichern.
Retrospektive zu Sibylle Bergemann
Als sie 1999 für ihre erste „GEO“-Bildreportage in den Jemen reist, hat das nachhaltigen Einfluss auf ihr Werk. Ihre Karriere entwickelt sich auch in Farbe weiter, die im internationalen Bildjournalismus fast zur Pflicht geworden ist. Bergemann vergrößert ihre Farbfotografien von nun an selbst und steht dafür stundenlang in der Dunkelkammer: „… sonst sind das nicht meine Bilder“ (2007). Bis 2010 reist sie für „Geo“ unter anderem nach Ghana, Mali, Portugal und in den Senegal. In Dakar fotografiert sie 2001 die Kollektionen der senegalesischen Modeschöpferin Oumou Sy.
PODCAST
Anlässlich der Ausstellung erscheint ein vierteiliges Audio-Feature über die Fotografin Sibylle Bergemann. Es ist in der Ausstellung sowie als Podcast auf der Website der Berlinischen Galerie und bei Spotify verfügbar.
Aktuell ist Sibylle Bergemanns Werk in einer groß angelegten Retrospektive in der Berlinischen Galerie zu sehen. Parallel dazu ist der Ausstellungskatalog im Verlag Hatje Cantz erschienen. Der Bildband stellt auf verschiedenen Erzählebenen den einzigartigen Bilderkosmos von Sibylle Bergemann vor: Er versammelt über 200 Fotografien sowohl aus den Sammlungsbeständen des Museums als auch dem Nachlass der Fotografin. Erstmals werden dabei auch ausgewählte Motive des Frühwerks gezeigt.
„Gute Bilder kann man nicht erzwingen, man kann sie nur in Empfang nehmen […]“, beschreibt die „Geo“-Journalistin Johanna Wieland Bergemanns Arbeitsweise. Über vier Jahrzehnte hinweg war Bergemann dafür weltweit unterwegs. Eine Kamera hatte sie mindestens immer dabei.
Die Fotografin
Sibylle Bergemann (1941–2010) begann ab 1966 zu fotografieren und war ab 1967 freie Mitarbeiterin für DDR-Zeitschriften wie „Sonntag“ und „Das Magazin“, von 1970 bis 1995 auch für „Sibylle. Zeitschrift für Mode und Kultur“. Nach der Öffnung der Mauer begann für Bergemann eine neue Etappe in ihrer Karriere, ihre Reportagen – nun in Farbe statt in Schwarz-Weiß – führten sie rund um den Globus.
Sie war Mitbegründerin von „OSTKREUZ – Agentur der Fotografen“ und fotografierte für GEO, Die Zeit, Stern oder das New York Times Magazine. Über mehr als vier Jahrzehnte hinweg schuf die Berlinerin mit großer Leidenschaft ein außergewöhnliches Werk aus Mode- und Porträtaufnahmen, literarischen Reportagen und atmosphärischen Bildserien. Damit gilt sie als eine der bekanntesten deutschen Fotograf:innen.
Der Bildband
Sibylle Bergemann:
Stadt Land Hund.
Fotografien 1966 – 2010
Hrsg. Berlinische Galerie
Texte von Susanne Altmann, Bertram Kaschek, Anne Pfautsch, Katia Reich, Jan Wenzel, Frieda von Wild, Lily von Wild
Hatje Cantz Verlag
264 Seiten, 48 Euro
ISBN 978-3-7757-5207-7
Die Ausstellung
Mit einer Auswahl von über 200 Fotografien, davon 30 bisher unveröffentlicht, richtet die Ausstellung einen retrospektiven und persönlichen Blick auf das Werk von Sibylle Bergemann. Sechs Kapitel – „Unsichtbare Beobachterin“, „Berlin“, „Frauen“, „Moskau, Paris, New York “, „Die Welt in Farbe“ und „Zurück in Berlin“ – führen thematisch und weitestgehend chronologisch durch das zwischen 1966 und 2010 entstandene OEuvre. Ein weiteres Kapitel, „Lebensorte“, präsentiert neben ihren Fotografien auch Bilder von Arno Fischer, Ute Mahler, Roger Melis und Michael Weidt, die Einblick in Bergemanns private und soziale Räume geben. Hier zeigt sich die Verbundenheit zu befreundeten Fotograf*innen in Ost-Berlin und zu internationalen Kolleg*innen.
INFOS ZUR AUSSTELLUNG
Sibylle Bergemann: Stadt Land Hund.
Fotografien 1966 – 2010
Vom 24.6. bis zum 10.10.2022
Öffnungszeiten: Mi–Mo 10–18 Uhr, Di geschlossen
Berlinische Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Alte Jakobstraße 124 –128, 10969 Berlin
berlinischegalerie.de