Viele Motive haben mehr Dynamik und Wirkung, wenn du die entscheidenden Schritte näher herangehst und dich auf die Essenz des Bildes konzentrierst.
Seit Beginn meiner Karriere beobachte ich bei mir ein interessantes Phänomen: Wenn ich in meinem Archiv für ein neues Kalender-, Bildband- oder Fine-Art-Projekt Bilder aussuche, lande ich zielsicher beim letzten Motiv aus einer Bildreihe. Wenn ich also abends in einer Wüstenregion fotografierte und von einem Motiv vier oder fünf verschiedene Ansichten abgelichtet habe, ist fast immer das letzte Bild aus dieser Reihe das beste. Ich finde diese Wahrnehmung spannend, weil ich in aller Regel schon vor den Aufnahmen weiß, was ich wo fotografiere – eigentlich könnte daher immer gleich das erste Bild ein Volltreffer sein.
Trotzdem habe ich den Eindruck, dass ich mich an viele Motive erst etwas herantasten muss. Als ob ich erst beim Fotografieren ein gutes Gefühl für das Motiv bekomme, das beim Vorab-Scouten scheinbar nicht in voller Gänze antizipierbar ist. Die ersten Bilder einer Reihe sind sicher nicht schlecht, aber beim nachträglichen Betrachten der Fotos stelle ich fest, dass ich beim letzten, besten Bild fast immer noch etwas näher an das Hauptmotiv herangegangen bin als bei den ersten Motiven dieser Reihe. Dass ich beim Herantasten das Wesentliche des Motivs gefunden habe.
Raus aus der Komfortzone
Dieses Phänomen beobachte ich auch bei vielen meiner Workshopteilnehmer:innen. Wenn wir an eine neue Location kommen, sind etliche Teilnehmer:innen (verständlicherweise) so fasziniert von der tollen Architektur oder Landschaft, dass sie sofort an Ort und Stelle losfotografieren. Dabei entstehen in aller Regel dann gute, aber nicht die besten Bilder. Selbige entwickeln sich erst, wenn meine Teilnehmer:innen anfangen, sich mit dem vor ihnen liegenden Motiv auseinanderzusetzen, sich visuell an es herantasten, es „lesen“ lernen: Was an diesem Motiv ist das Besondere, was ist die Essenz dieses Bildes, was daran ist so anders, originell oder ungewöhnlich, was muss ich gestalterisch betonen? Dieses visuelle Herantasten geht dann in den meisten Fällen einher mit einem physischen Näherkommen ans Motiv.
Ich illustriere das am Bild (oben) einer bekannten Allee in Nordirland. Aus der Entfernung ist diese Allee sicher interessanter als eine 08/15-Allee hierzulande, trotzdem bleibt das Bild völlig banal und entbehrt jeder Gestaltung und Dramatik. Gehe ich jedoch nah ans Motiv heran (in Bild 2 ca. 50 Meter näher; von dort lassen sich die Bäume dann visuell verdichten mit einem 200-mm-Objektiv), zeigt sich das ganze fotografische Potenzial dieser Allee: Die Essenz, die in sich verschlungenen Äste, wird betont; die in diesem Bild unwichtige Straße, der Zaun, das störende Auto und die beitragslose Umgebung blende ich gezielt aus.
Ähnlich verhält es sich bei den Bildern im tiefsten Winter, die ich im Hinterland von Island fotografierte. Angekommen an meinem Ziel bot sich die Szenerie vom Bild unten, die touristisch nett, aber in keinster Weise fotografisch spektakulär war. Eigentlich wollte ich enttäuscht umkehren, weil sich aus der Entfernung aber auch gar kein Motiv anbot. Als ich aber näher an den zugefrorenen See heranging, entdeckte ich eine kleine stehende Eiswelle (zweites Bild). Um diese wirklich interessant zu fotografieren, musste ich unter sie kriechen. Eine Frontalaufnahme hätte in diesem Fall nicht für ein kalendertaugliches Motiv ausgereicht. Erst die tiefe Perspektive in Kombination mit dem Weitwinkel entfaltete die Dynamik. An diesem Motiv lässt sich das Thema „näher ran“ anders vertiefen.
Vordergrund ist wichtig
Einige Teilnehmer:innen erklären mir immer wieder im Brustton der Überzeugung, dass sie an bestimmte Motive nicht näher heranmüssen, weil sie diese mit einem Tele fotografieren können. Beim Allee-Motiv mag das stimmen, aber in aller Regel ist diese Aussage nichts anderes als Bequemlichkeit, sich intensiver mit dem Motiv auseinanderzusetzen. Viele Landschaftsmotive benötigen einen guten, mit einem Weitwinkel fotografierten Vordergrund, um die nötige Plastizität und Tiefe zu erhalten.
Ein letztes Beispiel aus Hawaii veranschaulicht dies: Das Bild (oben) zeigt die dort typische Lavalandschaft – aber der mit einem 45-mm-Objektiv fotografierte Ausschnitt kommt trotz warmen Abendlichtes und mystischem Nebel nicht über eine dokumentarische Aufnahme hinaus. Erst über das Näher-Herangehen an einen signifikanten Vordergrund und über das Verwenden eines Weitwinkelobjektives schaffe ich es, das Wesentliche zu betonen, und erst so wird das Bild zu einem vielfach verwendeten Kalendermotiv. Überlegen Sie daher bewusst: Was ist das Wesentliche beim Motiv, und muss ich noch einige Schritte näher heran, um dieses Wesentliche zu betonen?