Der serbische Fotograf Goran Tomašević ist eine lebende Legende. Seit 30 Jahren arbeitet er in den Krisengebieten dieser Erde, steht mit seiner Kamera direkt an vorderster Front, wenn Raketen abgefeuert werden, Schüsse fallen oder friedliche Demonstrationen in brutale Gewalt umschlagen. Dabei beherrscht er die Kunst der Fotografie, indem er die Welt auf humanistische Art und Weise interpretiert und so in die Fußstapfen von Robert Capa und James Nachtwey tritt. Der Verlag Edition Lammerhuber zeigt nun sein Schaffen in einem eindrucksvollen Bildband.
Wie so oft verfiel auch Tomašević der Fotografie bereits als Kind: Sein Vater hat gerade ein Fahrrad verkauft und schenkt ihm die erste Kamera, eine alte FED 5V. Goran war 13 Jahre alt und wusste noch nicht, dass diese Vorgängerin einer Leica es ihm erlauben würde, rasch Fortschritte zu machen – unter anderem auch mit der Hilfe des Freundes seiner älteren Schwester, eines Berufsfotografen. Damals ahnte er nicht, dass diese Kamera die Richtung für seinen weiteren Lebensweg vorgeben würde – und dass vor ihm ein ständiges Abenteuer liegen würde.
Der Bildband „Goran Tomašević“ breitet dieses Leben, die Abenteuer und das Bildwerk nun auf 444 Seiten aus und liefert einen wichtigen Beitrag auf dem großen Weg der Fotoreportage und eine unverzichtbare Geschichte der vergangenen 30 Jahre. Goran Tomašević schnitt sich nie von seiner serbischen Herkunft ab. Im Gegenteil, obwohl ihn bereits Afrika und der Nahe Osten faszinierten, berichtete er anfangs über die Situation in Kroatien und Bosnien 1991 und nahm Aufträge aus der lokalen Presse an.
Fakten authentisch vermitteln
Die Lehren und die Zuneigung seines Vaters und Großvaters im Kopf, widmete sich Tomašević vorrangig der schweren Krise im Land zwischen Bombenangriffen der NATO und Demonstrationen gegen Milošević. Die Qualität seiner Reportagen, die Kraft seiner Bilder öffneten ihm die Tür zur berühmten Agentur Reuters, der er 1996 beitrat. In den folgenden 20 Jahren wurde er zu einem der am meisten ausgezeichneten Fotografen der Welt. „Wenn du die Fakten authentisch vermitteln willst, musst du dort sein, wo sie sind. Das ist die Herausforderung. Aber es ist schwerer,” meinte er in einem Interview, „wenn die Storys in deiner Heimat passieren. Das tut am meisten weh.“
Dieses Geständnis zeigt einen der Gründe für seine Humanität, die alle seine Reportagen durchwirkt, von Pristina bis Kabul, sowie seine gesamte Fotografie, schon jetzt ein äußerst bedeutsames, ausdrucksstarkes Werk in der Welt der Fotoreportage. „Die Bilder von Goran Tomašević sind nötiger als je zuvor, um die Wahrheit der Fakten zu erkennen und den Respekt gegenüber jeder:m Betrachter:in“, sagt Alain Mingam, Präsident des World Press Photo Contest 1994 und Vizepräsident von Reporters Without Borders 2013 – 2015.
Was Goran Tomašević in seiner Tätigkeit als Kriegsfotograf erlebt, ist mitunter unvorstellbar. Leid und Grausamkeit gehören ebenso zu seinem Arbeitsalltag wie Hoffnung und Glück. So erzählt er zu dem Foto, das auf dem Cover abgebildet ist, folgende Geschichte: „Kurz bevor ich diese Aufnahme machte, drehte sich Sergeant Bee zu mir um und sagte: ‚Schau über die Mauer, siehst du etwas?‘ ‚Nicht wirklich‘, sagte ich und dann – BOOM! Als es passierte, sah ich Sergeant Bee im Staub liegen, und ich dachte, er sei erschossen worden. Ich sprang auf, um ihm zu helfen, und war sehr überrascht, dass ich kein Blut fand und er noch atmete. Der Sanitäter kam und es stellte sich heraus, dass er nur das Bewusstsein verloren hatte, aber es ging ihm gut. Später rauchten wir gemeinsam Zigaretten, und er fragte mich, ob ich irgendwelche Fotos hätte. Wir schauten zusammen und ich sagte: ‚Bee, das ist ein verdammt gutes Foto, du wirst berühmt werden.‘“
Der Fotograf
Goran Tomašević, geboren 1969, ist ein serbischer Fotograf. Für Reuters reist er seit mehr als 20 Jahren um den Globus, um über die wichtigsten Themen der Welt zu berichten. Seine Bilder von Krieg und Revolutionen gehören zu den wichtigsten Bildern der Konflikte auf dem Balkan, im Irak, in Afghanistan, Libyen, Syrien, Südsudan, Pakistan, Mosambik, der DR Kongo, der Zentralafrikanischen Republik, Burundi oder Nigeria. Tomaševićs Arbeit wurde mit vielen renommierten internationalen Preisen ausgezeichnet.
Er wurde viermal zum „Reuters Photographer of the Year“ ernannt, erhielt den ersten Preis in der Kategorie „Spot News Stories“ bei World Press Photo, den Preis „China International Press Photo of the Year“, den „SOPA Award of Excellence for News Photography“, den „London Frontline Club Award“ und den „Days Japan“-Preis. Er wurde für den Pulitzer-Preis für Breaking News Photography nominiert. Das Fototeam des Guardian wählte ihn zu seinem Agenturfotografen 2013, 2016 die International Business Times UK zu ihrem Agenturfotografen. 2019 wurden Tomašević und mehrere seiner Kollegen von Reuters für ihre Berichterstattung über die Massenmigration von Mittel- und Südamerikanern in die Vereinigten Staaten mit dem Pulitzer-Preis für Breaking News Photography ausgezeichnet.
Der Bildband
Goran Tomašević
David Thomson
Jean-François Leroy & Vincent Jolly
Alain Mingam
Verlag Edition Lammerhuber
444 Seiten, 59 Euro
ISBN 978-3-903101-91-3
https://edition.lammerhuber.at/buecher/goran-tomasevic