Gute Locations zu finden ist ein wichtiger Weg zum fotografischen Erfolg. Ein weiterer ist, innerhalb bekannter Locations neue Motive zu finden. Ein Plädoyer gegen voreiliges Abhaken und fürs Wiederkommen.
Anfang Februar, ich stehe auf einem Berg in Finnland, auf den ich bereits 15-mal gewandert bin. Mit minus 36 Grad ist es etwas frisch auf dem Gipfel, und unter normalen Umständen würde ich bei diesen Temperaturen nicht freiwillig zum 15. Mal eine Location besuchen. Aber diese rosa-lila-rot-blaue Dämmerung ist einfach zu schön und lässt mich alle Minusgrade vergessen. Und ich werde kommenden Winter zum 16., 17. und 18. Mal wieder auf diesen Berg wandern. Nicht, weil ich am Bekannten klebe, sondern weil ich das Unbekannte im Bekannten suche.
Neben dem Finden neuer Locations bin ich großer Fan davon, bereits besuchte Locations immer wieder neu zu fotografieren. Zum einen bin ich immer wieder überrascht, dass ich im zweiten Anlauf bereits abgelichtete Motive noch einen Tick optimieren kann. Genauso überrascht bin ich aber auch darüber, was ich in dieser Location beim ersten, zweiten oder dritten Besuch alles noch nicht gesehen hatte. Selbst wenn sich die äußeren Bedingungen nur wenig oder gar nicht verändert haben, bekomme ich bei wiederholten Besuchen die Chance, die offensichtlichen, die sich optisch aufdrängenden Motive der ersten Reihe zu übergehen und mich den subtileren Motiven zu widmen.
Motive im Wandel der Zeit
Dieses Phänomen erleben auch die Teilnehmer:innen meiner Workshops bei unseren Bildbesprechungen. Alle Teilnehmenden haben ohne Zeitdruck an der gleichen Location fotografiert, teilweise standen sie Schulter an Schulter. Und trotzdem haben sie komplett unterschiedliche Motive gesehen oder bildgestalterisch beziehungsweise beim Ausschnitt grundsätzlich anders umgesetzt. Bei unseren Bildanalysen fallen dann konsternierte Sätze wie „Wo hast du denn das gesehen? Ich stand doch direkt neben dir!” oder „Das kann dort gar nicht gewesen sein!”. Sätze, die zum einen das gute Auge des anderen wertschätzen; zum anderen aber auch die motivische Vielfältigkeit der Location und den Vorteil aufzeigen, eine Location mehrfach zu besuchen.
Natürlich sind nicht alle Locations immer gleich, sondern sie verändern sich durch Wettereinflüsse oder zu verschiedenen Jahreszeiten und werden zu optisch grundverschiedenen Motiven: Wälder, die im Spätherbst gerade noch flächendeckend gelb geleuchtet haben, sind wenige Stunden später verschneit (siehe oben). Wasserfälle donnern bei einem Besuch mit Macht ins Tal, bei einem anderen Besuch tröpfelt an der gleichen Stelle nur ein müdes Rinnsal über die Felsen. Flüsse führen heute einen normalen Pegel, zwei Regentage später kann man dort neu entstandene Wasserläufe und bislang unbekannte Wasserfälle fotografieren.
Küsten können an einem stürmischen Tag wellenumtost sein (siehe Aufmacherfoto), einen Tag später liegt dort das Meer wie von Zauberhand geglättet vor einem. Bestimmte Locations wirken ohne Wind und Wellen dann plötzlich langweilig – jedoch ermöglicht die ruhige See ungeahnten Zugang zu Stellen, die während eines Sturmes nicht begehbar waren. Auch Ebbe und Flut verändern Küsten und Strände visuell komplett, und selbst die sich täglich ändernde Höhe von Ebbe oder Flut kann an der gleichen Location oft deutlich variieren und damit neue Motive ermöglichen. Wüsten wirken während eines trockenen Frühlings grau und leblos, ein Jahr später zur exakt gleichen Zeit explodieren sie in einem Blüten- und Farbenmeer.
Ein Wiederkehren lohnt sich
Und natürlich können auch verschiedene Lichtverhältnisse Locations bis zur Unkenntlichkeit verändern: Auf meinem finnischen Berg habe ich farbenfrohe Dämmerungen erlebt, aber auch hartnäckigen Nebel. In einem Jahr sind die Bäume dort zart überfrostet, 365 Tage später drücken dickste Schnee- und Eismassen selbst zehn Meter hohe Baumwipfel in Bögen auf den Boden. Um 12 Uhr macht die pralle Sonne mit ihrem harten gleißenden Licht hier jedes Fotografieren zur Qual, nur drei Stunden später werfen die letzten Lichtstrahlen der Wintersonne lange fotogene Schatten auf die Schneeflächen.
Wenn du glaubst, dass du eine bestimmte Location nach dem ersten Besuch dort perfekt und abschließend fotografiert hast: Glaube so etwas einfach nicht, hake diese Location innerlich noch nicht auf deiner Bucket-List ab, sondern gönne dir mehrfaches Fotografieren an den gleichen Locations – zu verschiedenen Jahreszeiten, bei verschiedenem Licht, bei unterschiedlichem Wetter. Wenn du wach und aufmerksam an dir bereits vertraute Locations herangehst, wirst du mit viel Neuem im Bekannten belohnt werden.